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Wenn Hannah Arendt auf Instagram wäre – oder: Berufswunsch Influencer

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Fast eine Millionen Aufrufe für ein Interview auf Youtube. Eine beachtliche Zahl. Ein neues Locken-Tutorial von Bibi? Nein. Ein sehenswertes Interview mit Hannah Arendt. 

Hätte es zu den Zeiten der Soziologin, Politologin und Historikerin Instagram schon gegeben – wäre sie wohl eine Influencerin gewesen? Wären ihr die Herzen auf ihrem Kanal in den Schoß gefallen oder hätte sie ein kleines Leben in der Nische geführt? Und hätte sie den Kopf geschüttelt über eine junge Generation, die sich begierig darauf stürzt, ihr Gesicht für Werbebotschaften großer Konzerne hinzuhalten?

Nein, die großen politischen DenkerInnen sind sie nicht gerade – das muss man leider sagen. Die überwältigende Mehrheit der BetreiberInnen von reichweitestarken Social Media Accounts beschäftigt sich kaum mit gesellschaftlich relevanten Themen. Wer sich um nicht monetarisierbare Inhalte kümmert, ist eher Nische als Mainstream und selbst die Schwung nehmende feministische Welle verebbt nicht selten auf sprücheklopfenden T-Shirts, die in Bangladesh unter menschenunwürdigen Bedingungen mit ihrer trendigen Marketing Message bestickt wurden.

Auf den großen Kanälen finden sich wenig kritische Gedanken. Dafür aber jede Menge Produkte. Früher wurde uns Werbung noch von den Mainzelmännchen schmackhaft gemacht, kurze Spots, kuschelig flankiert von lustigen Zeichentrickfiguren. Werbung war eine Zumutung – jetzt ist sie ein Berufswunsch. Sie ist Teil unseres Lebens geworden. Selbst für sogenannte Micro-Influencer finden sich zahlreiche Kooperationsmöglichkeiten und manchmal habe ich den Eindruck, dass das Selbstwertgefühl junger Menschen gekoppelt ist an ihre potentielle Attraktivität als WerbeträgerInnen.

Wir wollen begehrt werden – von Firmen. Wir wollen Einfluss. Einfluss ist Macht. Aber warum gebrauchen wir diese Macht nur noch dazu, Konsum, Konsum und noch einmal Konsum anzukurbeln?

Denn nichts anderes sind die meisten Instagram-Accounts mittlerweile: Werbeflächen. Da nützt es wenig, dass die BetreiberInnen immer wieder beteuern, sie würden nur solche Produkte unterstützen, die ihnen auch wirklich gefallen.

Käuflich sein, das will niemand. Zum Kaufen anregen aber tun fast alle.

Wenn ich die Instagram-Suchfunktion bemühe, werden mir regelmäßig neue Account-Vorschläge unterbreitet. Er ist so fürsorglich, dieser Algorithmus! Scrolle ich mich durch diesen Feed, schaue ich mir manchmal aus reiner Neugierde große Profile an. Was ist auf ihren Fotos zu sehen? Wofür ernten sie Begeisterungsstürme? Was ich auf diesen Kanälen finde, ist schnell erzählt. Es ist eine nicht enden wollende Flut ewig gleicher Bilder. Junge, schöne Frauen. Teurer Urlaub. Schöne Schminke. Und immer wieder: Klamotte. Klamotte. Klamotte. Und Schuhe.

Es gibt “couple goals” und “wedding goals” und wer ein Baby bekommt, kann sich über reichlich Follower-Zuwachs freuen. All das ist natürlich immer verbunden mit? Genau! Konsum. Brautkleider, neues Babybett, neue Sporthosen für den After Baby Body. Das Leben eines Influencers bietet reichlich Gelegenheit, Produkte an den Mann und an die Frau zu bringen.

Anfang des Jahres befragte die Werbeagentur Jung von Matt 1200 der beliebtesten Influencer nach der Motivation für ihr Tun. 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in ihrer Rolle als Influencer etwas bewirken wollen. Aber, die Frage sei gestattet: Was genau?

Was KÖNNEN diese Influencer eigentlich? Und damit meine ich explizit NICHT, dass Influencer nicht arbeiten! Einen großen Instafeed zu bedienen, das ist ein Knochenjob. Unendlich viele Stunden fließen in Fotoshootings, Bildbearbeitung, Koordination und Akquise von Kooperationen und in die Beantwortung der zahllosen Kommentare und Nachrichten. Nicht wenig helle Sterne des Social Media Universums brennen dabei heller aus, als eine Supernova. Aber FÜR WAS werden sie gefeiert, bewundert, belohnt? Warum wird ihnen hinterhergekauft?

Weil sie es schaffen, auf ihren Kanälen die Illusion eines perfekten Lebens in ewiger Glückseligkeit zu kreieren. Weil sie aus ihrem Dasein einen Lifestyle machen, der so unglaublich schwerelos und tuffig daherkommt, dass wir auch ein Stückchen davon abhaben wollen. Und wer ihn möchte, muss einkaufen.

Dabei zementieren all diese Influencer ganz nebenbei auch noch ein unglaublich eindimensionales Bild stereotyper (weiblicher) Schönheit, das durch allerhand Peelings, Selbstbräuner, Eiweißshakes und Gesichtspflegeprodukte erreicht werden soll. Überhaupt definieren sich Frauen hier wieder einmal über Aussehen, Aussehen, Aussehen. Wundervoll. Am Ende finden sich dann schon achtjährige Grundschülerinnen zu dick und verkneifen sich den mitgebrachten Geburtstagskuchen der besten Freundin. Wir züchten Generationen unzufriedener Seelen heran, denen ein unerreichbares und künstliches Zerrbild eines Idealmenschens tagtäglich auf dem Smartphone entgegen lacht und die einzige Antwort, sie sie darauf zu findet scheint, lautet: Konsum.

Günter Gaus konstatiert im Interview mit Hannah Arendt, dass sie in ihrem Werk der “Vita activa” oder “Vom tätigen Leben”, zu dem Schluss kommt, „daß die Neuzeit den Gemeinsinn, also den Sinn für die Erstrangigkeit des Politischen, entthront hat. Sie bezeichnen als die modernen gesellschaftlichen Phänomene die Entwurzelung und Verlassenheit des Massenmenschen und den Triumph eines Menschentyps, der im bloßen Arbeits- und Konsumvorgang sein Genügen findet.“

Und Arendts Antwort darauf macht die Tragweite dieser Entwicklung deutlich:

„Sehen Sie, die Sache mit dem nur noch Arbeiten und Konsumieren, die ist deshalb so wichtig, weil sich darin wieder eine Weltlosigkeit konturiert. Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.

Ja, wie die Welt aussieht, daran, so scheint es, ist vielen jungen Menschen kaum gelegen. Eher am eigenen Kontostand. Oder an der Form des eigenen Sixpacks. Aber es gibt noch jemand anderen, der von diesem System profitiert. An erster Stelle die Unternehmen, die ihre Werbung so glaubwürdig platzieren können, wie nie. Und mit den Unternehmen profitiert ein Wirtschaftssystem, das auf ewiges Wachstum ausgerichtet ist und das eines Tages kollabieren muss.

„Kapitalistische Dynamik ist daher nichts anderes als der fortwährende Versuch vor allem großer Unternehmen und der Staaten, Schranken der Akkumulation und damit auch Möglichkeitsgrenzen des Wachstums zumindest zeitweilig zu über- winden und räumlich zu verschieben, wobei jede dieser Grenzen immer wieder von einer anderen abgelöst werden kann. “ schreibt Prof. Dr. Klaus Dörre, der Soziologie an der Universität Jena lehrt.

Was er der Welt bescheinigt, ist wenig schmeichelhaft für uns: Gegenwärtig konsumiert ein Viertel der Weltbevölkerung vorwiegend des globalen Nordens drei Viertel der Ressourcen und erzeugt drei Viertel des Abfalls und der Emissionen.“

Damn. Warum reden wir nicht darüber? Zu anstrengend, zu unbequem? Sollten wir uns nicht beschämt auf die Füße gucken, vor der eigenen Haustür kehren und aufhören, uns auf Kosten weit entfernt gewähnter Menschen ein fotogenes Leben zurechtzufiltern?

„Influencer“ ist ein Begriff, der fast untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben scheint. Aber muss das so sein? Und – muss es so bleiben?

Kann Einfluss nicht viel vielschichtiger sein, kann es nicht um Inhalte, statt Produkte gehen, muss es das nicht sogar, wenn wir auf diesem blauen Planeten weiterhin existieren wollen? Warum ist Engagement nicht mehr „in“? Warum gibt es ein Sendungsbewusstsein für die neue Frühjahrskollektion aber nicht für die Herausforderungen, vor denen wir als Weltgemeinschaft stehen?

Ich will eine neue Generation von Influencern. Ich will eine inhaltliche Umdeutung des Begriffs. Menschen, wie die wunderbaren Frauen aus dem Blogger-Netzwerk betterblogs. Die schreiben, um gesellschaftlich etwas zu verändern. Nicht, weil sie etwas dafür bekommen. Sondern, weil sie vielleicht eine Eigenschaft mit Hannah Arendt teilen: die Sehnsucht danach, die Zusammenhänge zu begreifen. Arendt sagt im Interview, dass ihr Ziel bei allem, was sie tue, sei, besser zu verstehen. Sie wolle nicht wirken, sie wolle verstehen und dieses Verstehen dann mit anderen teilen. Ich muss das wiederholen. Nicht wirken, sondern verstehen. Ich habe den Eindruck, diese Botschaft könnten wir uns alle an die Wand hängen. Verständnis – was für eine wertvolle Währung wäre das! Gemeinsam handeln statt konsumieren. 

Schreiben, Leben, Posten  – um Teil einer Lösung zu sein? Denn ist nicht unsere Fähigkeit, über unsere eigenen Bedürfnisse hinauszudenken und Verantwortung zu übernehmen für etwas, das größer ist, als wir selbst und das uns überdauern wird, etwas, das unser Menschsein im Kern ausmacht? Hannah sieht das wohl so. Und deshalb schließe ich mit ihren Worten, die ich, an ihrer statt, gleich auf Instagram posten werde:

” Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.“  Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben

Der Beitrag Wenn Hannah Arendt auf Instagram wäre – oder: Berufswunsch Influencer erschien zuerst auf Kea von Garnier.


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